"Don't try suicide, nobody's worth it, don't try suicide, nobody cares!
Don't try suicide, you're just gonna hate it!
Don't try suicide, nobody gives, nobody gives...
nobody gives a damn!"
(Freddie Mercury)
Die
Seven Sisters, besonders der sich ihnen östlich anschließende
Beachy Head mit seinen stolzen
162 Metern Höhe, sind die wohl
berüchtigsten Kreidefelsen Südenglands. Zunächst einmal sehen sie einfach nur
spektakulär aus: pittoreske,
steil abfallende, weiße Felsenklippen, unten
blaues Meer, oben
blauer Himmel, dazwischen
grünes Gras und jede Menge
kreischender Möwen. Ein wirklich abwechslungsreicher,
wunderschöner Küstenwanderweg mäandert zwischen den Städtchen
Seaford und
Eastbourne. Ideal geeignet für einen
Tagesausflug aus der Hauptstadt.
Beim ersten Versuch, mich am Rande der Steilküste mit Selbstauslöser zu fotografieren, werde ich von einer vorbeikommenden Frau angesprochen, die sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt. Nachdem ich ihr erkläre, dass ich nur im Begriff bin, ein Foto zu machen und sie sie sich scheinbar davon überzeugt hat, dass ich nicht sonderlich verzweifelt aussehe, spaziert sie von dannen und lässt mich etwas ratlos zurück. Im Nachhinein denke ich, muss es wohl ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, wie ich Richtung Klippe eilte, nachdem ich den Timer der Kamera eingestellt hatte. Shit - sie dachte doch wohl nicht etwa...? Oops.

Und als ich später lese, dass jedes Jahr um die 20 Todesfälle an den Klippen und besonders am Beachy Head bekannt gegeben werden, wird mir plötzlich alles klar. Möglicherweise gehörte die Frau zum Seelsorgeteam, welches regelmäßige Tages- und Abendpatrouillen in der Gegend durchführt, um potenzielle Springer ausfindig zu machen und möglichst zu stoppen. Gerade Beachy Head eignet sich nämlich aufgrund seiner Höhe als sichere Todesgarantie beim Sprung für einen Suizid hervorragend.
Weltweit steht die Selbstmordrate aufgrund des Sturzes vom steilen Kreidefelsen im Übrigen auf Platz 3 und wird nur noch von der Golden Gate Bridge in San Francisco und den Wäldern von Aokigahara in Japan übertroffen. Oh-oh...
Es ist jedoch keineswegs nur Todessehnsucht und Verzweiflung, welche die Menschen in die Tiefe stürzen lässt. Manchmal geht so ein Instagram-taugliches Shooting hier eben leider auch daneben. Und bevor ihr jetzt entsetzt den Kopf schüttelt: ich schwöre, ich befand mich bei meinem Foto noch immer ausreichend sicher und weit genug von der Felskante entfernt. Geht ja eh nicht anders wegen meiner grauenhaften Höhenangst!
"Wir können die Besucher nur eindringlich warnen, sich vom Rand der Kliffküste fernzuhalten", rät die britische Feuerwehr regelmäßig. Trotzdem passieren Unfälle, so verlor beispielsweise eine koreanische Studentin beim Luftsprung fürs Erinnerungsfoto dicht am Abgrund den Halt und stürzte 60 Meter hinab in den Tod. Tja, wenn's mal dumm läuft, dann aber so richtig...
Das schroffe Felsgestein entstand nebenbei bemerkt in der späten Kreidezeit vor 65 bis 100 Millionen Jahren, als sich das gesamte Gebiet noch unterm Meer befand. Schließlich wurde die Kreide angehoben und als die letzte Eiszeit endete, stieg der Meeresspiegel, der Ärmelkanal bildete sich und formte unter anderem die dramatisch wirkende Steilküste von Sussex.
Nach meinem Zwiegespräch mit der interessierten Dame reiße ich mich jedenfalls zusammen und versuche, mich beim Weiterwandern ab sofort völlig unauffällig zu benehmen. Hüstel. Ach, aber wie herrlich doch diese Aussicht auf den tiefblauen Atlantik ist! Eine stete Brise macht die immerhin fast 30 Grad an diesem Tag gut erträglich, trotzdem sollte man unbedingt an Sonnenschutz und Kopfbedeckung denken, denn Schatten sucht man vergebens auf dem Rundweg, den ich vom kleinen Endbahnhof in Seaford aus bewandere, zumeist auf weichem, leicht sandigen Grasboden.
Die Fahrt hierher vom Bahnhof in East Croydon, auf dessen Gleise und Bahnsteige ich vom Balkon meines Apartments hinunterblicke, dauert eine gute Stunde und ist recht kurzweilig, da man beim Zugfahren ja auch immer die vorbeiziehende Landschaft betrachten kann, die bereits ab dem südlich von London gelegenen Flughafen Gatwick wirklich hübsch und "typisch englisch" anmutet.
Seaford hat zudem einen langen Kieselstrand, an dem sich an diesem heißen sonnigen Augusttag viele Badegäste tummeln. Aber den lasse ich links liegen und bringe schon mal die ersten Höhenmeter zwischen mich und die Sonnenanbeter, zunächst geht es nämlich ganz schön steil nach oben. Aber hey, ich komme schließlich aus Bayern, da bin ich ganz andere Anstiege gewohnt😂!
Apropos Anstiege: auch die Selbstmordrate der Küstenspringer stieg in den letzten Jahren wieder an und ich frage mich, ob der doofe Brexit und seine damit verbundene Wirtschaftskrise respektive Inflation damit zusammenhängen könnten. Den Leuten geht es nicht gut, und anstatt dass der Ausstieg aus der EU denen etwas gebracht hätte, die es meiner Ansicht nach verdient hätten, explodieren die Kosten. Neue, gravierende Steuererhöhungen treffen besonders diejenigen, die ohnehin schon schwer knapsen und lassen die berühmte Schere zwischen arm und reich noch weiter auseinanderklaffen.
Und hier am Beachy Head kommt es trotz Überwachung der Klippe durch die örtliche Seelsorge immer wieder zu Tragödien. Beispielsweise raste bei einem besonders dramatischen Vorfall ein Auto über den Abgrund direkt am Rettungsteam vorbei, welches noch damit beschäftigt war, die Leiche eines früheren Springers zu bergen.
Ein weiterer Fall rührt mich wirklich zu Tränen, nämlich der Freitod eines jungen Paares, das seinen geliebten behinderten Sohn durch Meningitis verloren und daraufhin beschlossen hatte, ihm zu "folgen": so sprangen sie mit der Leiche des Babys nebst einiger seiner Lieblingsspielsachen im Rucksack von der Klippe. Sowas zu lesen ist schon echt richtig hart. Dabei trägt die Tatsache, dass die beiden das tote Baby und sogar dessen Spielzeug mitnahmen - wohin auch immer - eher noch dazu bei, die Tränen nicht zurückhalten zu können. Zumindest bei mir. Mensch, Leute!
Inzwischen werden die Klippen rund um die Uhr überwacht, und viele Helfer, darunter Geistliche aus den umliegenden Kirchen, leisten hier beachtliche Freiwilligenarbeit. Regelmäßige Patrouillengänge und -fahrten tragen dazu bei, Menschenleben zu retten. Durchschnittlich viermal in 24 Stunden wird das so genannte Beachy Head Chaplaincy Team herbeigerufen, um zu intervenieren. Manchmal ist es zu spät, wie in den oben genannten dramatischen Fällen, aber eben nicht immer. Oft genug können Leben aber auch gerettet und Menschen überzeugt werden.
Ich weiß nicht, ob es im Jenseits Spielsachen gibt, ob man als Möwe wiedergeboren werden kann oder ob die junge Frau aus Korea je die Gelegenheit haben wird, sich aufgrund ihrer eigenen Dummheit beherzt mit der flachen Hand ans Hirn zu schlagen. Hab zudem keine Ahnung, warum jemand die Mühe aufwendet, sich vor dem Absturz noch der Kleidung zu entledigen und diese fein säuberlich gefaltet auf der Klippe zurück zu lassen - wie geschehen. Aber ich bin davon überzeugt, dass nahezu jeder Mensch ein gutes und zufriedenes Leben verdient hätte - und dass der Brexit als - wenn man so will - kollektiver Suizid vermutlich nicht gerade dazu beiträgt.
Zum Abschluss meiner Küstenwanderung entferne ich mich immer weiter von den Klippen - nicht, dass diese irgendwelche düstere Gedanken in mir hervorrufen, weit gefehlt, dazu sind sie einfach zu schön - und runde den Fußmarsch mit Blick auf herrlich grüne Wiesen, Wildblumenfeldern und grasenden Schafen ab. Danach geht es wieder zurück ins Städtchen Seaford, wo ich noch einen Abstecher ans Meeresufer mache, um meine malträtierten Füße ins kühle Nass zu tauchen. Anschließend mache ich mich auf zum Bahnhof, wo mir auf dem einzigen Bahnsteig eine ziemlich forsche Möwe begegnet, die wohl nach Futter Ausschau hält, sich aber eilig mit dem Windstoß davon macht, den der Zug Richtung London beim Einfahren erzeugt.
Liebe Maren,
AntwortenLöschenwas für Fotos! und was für ein Text! und was für eine Einleitung!!! ( er ist einfach der Beste ;-) ).
Diese Fotos lösen bei mir den Wunsch aus, sofort da sein zu wollen. Das sieht ja traumhaft aus, die Weite, die Klippen, das Meer, die Wiesen, die Blumen, die Schafe. Wie schön das dort aussieht und so menschenleer.
Der Text, der ist natürlich traurig. Die Geschichte von dem jungen Paar, das mit ihrem Baby von den Klippen gesprungen ist, das ist hart. Wie groß muss ihre Verzweiflung und Trauer gewesen sein. Das berührt mich sehr.
Liebe Maren, danke für die wunderschönen Fotos und das sich ein bisschen wegträumen lassen. :-) und für Freddie. :-)
Ich wünsche weiterhin einen schönen Urlaub!
Liebe Grüße,
Claudia
Ach, wie traumhaft - ich meine abgesehen von den Tragödien dort an den Klippen. Die Landschaft ist echt wunderschön und ich hätte auch gerne die Küstenwanderung gemacht! Danke fürs Mitnehmen, lg
AntwortenLöschenDein Post von/über den Seven Sisters heute ist harte Kost... Aus diesem Blickwinkel betrachtet, werden meine schönen Erinnerungen von vor 54 Jahren plötzlich ganz verschwommen.
AntwortenLöschenWeiterhin schöne Ferientage!
Astrid
Exzentrik und spannende Geschichten - noch nicht einmal eine Woche da und Du hast von beidem schon (zu?) reichlich gehabt. Einerseits der Brexit mit den bekannten Auswirkungen und andererseits Ehrenamtliche, die mögliche Suizidgefährdete retten möchten, Du erlebst eine Gesellschaft der extremen Gegensätze und das in einer wunderschönen Landschaft. Unter diesen Umständen innere Distanz zu wahren und sich zu erholen, ist echte Arbeit. Genieße trotzdem Deine Ferien und die Tatsache, dass anscheinend fast alle Züge pünktlich sind. 😉
AntwortenLöschenViele Grüße, Sula
Zum Glück sind Deine Fotos mit traumhaften Wetter, wenn der Text schon recht alptraumhafte Ereignisse heraufbeschwört.
AntwortenLöschenJa, da muss die Verzweiflung schon riesig sein, wenn ich dort runterspringe. Noch dazu als junge verwaiste Eltern...
Wie gesagt, zum Glück zeigst Du uns wunderbare, sonnige Bilder...
Aber du bist schon eingetaucht in die englische Psyche und Exzentrik.
Doch du klingst dabei vergnügt und lebenslustig. Das beruhigt mich sehr.
Habs schön!<3<3<3
Liebe Grüße von Sieglinde