Zwischentöne: Britons never shall be slaves






"London is my city
Jamaica's my country
Africa's my history
it ain't no mystery
how I came to be, earthling-free
sitting in Ilford watching TV"

(Earthling, Radar, 1995)

In meinen Posts behandle ich bekanntlich gerne auch mal das ein oder andere "soziale Thema", vor allem natürlich, wenn es mich aus unterschiedlichsten Gründen inspiriert, beeindruckt, beschäftigt oder berührt. Ist vermutlich irgendwie auch mein "Berufsrisiko"! Künftig würde ich so etwas gerne ganz offiziell ab und zu mit euch teilen und, wenn ihr mögt, diskutieren. Und diejenigen, welche keine Lust auf solche Posts haben, wissen auch gleich Bescheid und brauchen gar nicht weiterlesen - win-win auf allen Ebenen also!😂

Weil ich nicht immer alles so akribisch ausgemalt und gerahmt präsentieren will, da ich meistens keine Ahnung von dem, was ich schreibe, habe noch Raum für Weiterentwicklung lassen möchte, nenne ich die Reihe mal "Zwischentöne" - es soll um Farbschattierungen oder Nuancen gehen, wenn man so will - ich male euch nämlich kein fertiges Schwarz-Weiß-Bild, wie käm ich auch dazu. 

Möglicherweise stehen manche da nicht so drauf - aber es sind nun mal hauptsächlich Emotionen, über die ich schreibe. Wenn ihr knallhart recherchierte Fakten sachlich präsentiert haben wollt, seid ihr bei mir ohnehin an der völlig falschen Adresse 😂! Meine treuen Leserinnen wissen das natürlich.



Heute geht es um ein Thema, welches mich in den vier Wochen, die ich im aufregenden London wohnen durfte, sehr beschäftigt hat. Denn dort, wo ich wohnte, in East Croydon, war ich als "Weiße" eindeutig in der Minderheit! Tatsächlich. Und wie "der Zufall so will", stieß ich alsbald auch überall, wo ich war, genau auf dieses Thema. Ist ja immer so, ihr kennt das bestimmt auch.

Und ich begann mich zu fragen, wie es sich wohl anfühlt, als "People of Color" in so einer vordergründig offenen, multikulturellen, toleranten und bunten Stadt (weshalb es ja unter anderem so gutes Streetfood gibt 😂!) zu leben. Und natürlich auch, wie es überhaupt dazu kam.


"Rule Britannia! Britannia rule the waves. 
Britons never, never, never shall be slaves!"

(patriotisches Lied von 1740, 
zu Zeiten des blühenden britischen Sklavenhandels)

Das Gemälde oben - gesehen im Museum of the Home - hat mich nachhaltig berührt. Es zeigt englische Kinder im 19. Jahrhundert zusammen mit ihrer Nanny, die ihrer Hautfarbe nach vermutlich ursprüngliche Wurzeln in Afrika hatte, aber wohl eher bereits aus den Kolonien der so genannten West Indies stammt. Möglich, dass Teile ihrer Familie (man entzweite Paare und riss Familien üblicherweise auseinander, um die "Moral zu schwächen") nach London verkauft wurden und ihr weiteres Leben als Besitz einer gut situierten Londoner Familie fristeten. 

Als das Bild entstand, wurde der so genannte Slave Trade Act vom britischen Parlament bereits angenommen, ein Gesetz, welches den Sklavenhandel im British Empire zwar beendete, nicht aber die Sklaverei selbst. Dass es nahezu überall unfreie, Sklaverei-ähnliche Zustände gab und bis heute gibt, bleibt unbestritten. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber mir bleibt beim noch heute auf Veranstaltungen gerne mit stolzer Brust dreist geschmetterten "Britons never shall be slaves" echt die Spucke weg!

Eine der Collagen der Künstlerin Caroline Chinakwe, Museum of London Docklands 

Beim Thema Sklaverei denken viele (ich auch!) üblicherweise mehr an Amerika und den Bürgerkrieg und vergessen dabei tendenziell, dass unfreie Menschen ebenso den Wirtschaftskreislauf in Europa und vor allem den des damaligen Britischen Welt-Imperiums in Schwung hielten. 

Dabei wurden nicht nur Menschen aus Afrika in die karibischen Kolonien oder die neue Welt verschifft, sondern ein beträchtlicher Teil an Arbeit wurde auch im England des 16. bis 19. Jahrhunderts durch Sklaven erbrachtHaussklaven waren in London durchaus üblich. Die Folgen des Kolonialismus und der Sklaverei sind also der hauptsächliche Grund, weshalb es heute so viele Black Britons gibt - vor allem in London. Ich finde, das macht die Sache halt gleich weniger cool

In East Croydon

Und jetzt wird's meiner Meinung nach richtig interessant: der britische Versicherungskonzern Lloyd's of London beispielsweise entschuldigte sich erst im Jahr 2020 (!!) offiziell für seine Rolle im atlantischen Sklavenhandel und versprach, Organisationen zur Gleichstellung von Menschen afro-britischer Herkunft finanziell zu unterstützen. 

Ich finde es zudem höchst erstaunlich, dass britische Sklavenhändler teilweise bis heute verehrt werden, weil sie durch dieses zwar blutige und unmenschliche, aber lukrative Geschäft schließlich die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vorantrieben. Genau so, wie es am Ende auch rein wirtschaftliche Gründe waren, welche die Briten die Sklaverei beenden ließen, keineswegs humane.

Links die 2020 ins Wasser geworfene Statue von Edward Colston,
rechts das - seit kurzem - mit einem karibischen Stoffstück
halb verdeckte Gemälde des ehemaligen Sklavenhändlers Beeston Long
(gesehen im Museum of London Docklands)

Und ebenso erst vor 5 Jahren warfen Black-Lives-Matter-Demonstranten die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken von Bristol. Erst 2022 gab es überhaupt mal einen britischen Premierminister mit indischen Wurzeln (Rishi Sunak). Aber auch der sah keinen Grund, sich im Namen der Regierung öffentlich für die Sklaverei (unter der Indien bis 1947 schließlich ebenfalls litt) zu entschuldigen, als er vom schwarzen Labour-Abgeordneten Bell Ribeiro-Addy dazu ersucht wurde. Sunaks Antwort lautete, dass es nicht der richtige Weg sei, die britische Geschichte neu aufzumachen.

Ha! Natürlich nicht, denn somit würde man wohl tatsächlich ein Fass öffnen, dessen Inhalt sich unkontrolliert vor allem auf die Upper Class ergießen würde. Daher wartet man ja auch bis heute vergeblich auf eine(n) Premierminister*in mit karibischem Hintergrund. Könnte möglicherweise nicht zuletzt daran liegen, dass der Großteil zumindest der Tory-Regierungen eher aus Oxford- und Cambridge-Absolventen besteht. Und Zugang zu diesen Elite-Unis muss man sich auch erst einmal leisten können.

Afrikaner in Europa, Chinesen in der Karibik, Inder in Afrika:
Zwangsmigration gesteuert von britischer Macht.

Genau an diesem Punkt kommt meines Erachtens nach die typische britische Mentalität ins Spiel: die Herkunft, nicht nur wie, sondern vor allem wo man wohnt, welche Schule und gar welche Uni man besucht, in welchen Kreisen man verkehrt, auch zum Beispiel wie man spricht, darauf wird gerade im vereinigten Königreich viel Wert gelegt. Auch noch im Jahr 2025.

Daher ist Klassendenken schon etwas typisch Britisches. Status ist dort nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem des "Stallgeruchs", wie der britische Soziologe Mike Savage in seiner Studie „Social Class in the 21st Century“ beschreibt. Verarmter Adel geht vermutlich voll klar, aber einen durchschlagenden Cockney-Slang (Arbeiterklasse - igitt!) wird man in den elitären Kreisen niemals dulden. Und wohl auch keine braune Hautfarbe. Es sei denn, der/die schwarze Partner*in ist vorteilhaft fürs tolerante Image.

Aber wie auch immer, ich bin ja nicht blind, ich hab doch in London selbst gesehen, dass in Vierteln wie Croydon, Ilford oder Brixton die Hautfarbe mindestens jeder zweiten Person garantiert nicht weiß ist. Und dass diese Viertel nicht die angestrebten Postcodes im Hipster-London sind und schließlich auch nicht das Unterhaus repräsentieren, ist auch klar erkennbar. Tja, wo kämen wir hin, wenn sie uns jetzt auch noch unseren versnobten, ganz aktuellen, keineswegs ausgestorbenen Klassendünkel unterwandern?
 
Dabei ist mir bewusst, dass die Sklaverei und ihre Folgen, dieses düstere Kapitel der Geschichte, auf dem nicht zuletzt unsere so genannte Kultiviertheit fußt, auch in anderen Teilen der Welt nicht wirklich aufgearbeitet wurde, zum Beispiel in den USA oder Brasilien


Aber dass mitten in Europa (zumindest geografisch betrachtet 😂) eine so offensichtliche und gleichzeitig immer schön unter dem Toleranz-Deckmäntelchen vertuschte Klassengesellschaft es immer noch nicht hinbekommt, Themen wie Kolonialismus und längst fällige Reparationszahlungen anzugehen, sondern lieber "gebeugt über Beyond-Meat-Burgern mit Potatoe-Wedges, besprüht mit Trüffel-Öl", wie es die afro-britische Autorin Natasha Brown in ihrem Debütroman "Zusammenkunft" auf den Punkt bringt, noch heute lieber alles verdrängt und von sich weist, das muss man auch erst mal schaffen, finde ich.

Genauso vergeblich, wie die Suche im berühmten, so genannten "British Museum" in London nach nur irgend etwas "Britischem" unter den dort ausgestellten Exponaten aus aller Herren Kolonien verläuft, genauso weitgehend vergeblich waren offensichtlich die Versuche, die britische Vergangenheit bislang wirklich aufzuarbeiten. Wenn überhaupt, dann fing es vor ein paar Jahren erst an. Puh - da kam der Brexit ja gerade rechtzeitig, um von solcherart Problemen gleich mal wieder abzulenken.

Ich hoffe, ihr versteht meine - möglicherweise unter anderem durch meine "schottische Prägung" entstandene - Vorbehalte am Stolz der Engländer auf ihr supertolles Königreich nun etwas besser. Und ihr wisst hoffentlich auch (muss ich es wirklich erwähnen?) dass ich mich als in Deutschland geborene Erdenbürgerin selbstverständlich mit der hiesigen Vergangenheit auseinander gesetzt habe. In Grund und Boden geschämt hab ich mich jahrelang, im Ausland zuzugeben, Deutsche zu sein. Genauso, wie mir die alten, neuen, rechten Parolen, Parteien und Entwicklungen eine riesige Angst machen. Never ever werdet ihr das Wort "Stolz" im Zusammenhang mit meiner Herkunft hören.

Aber mit "British Pride" wird man einfach überall im Königreich konfrontiert - nicht zuletzt im Supermarkt. Stellt Euch bloß mal vor, jedes hiesige regionale Produkt, ob Rettich oder Bergkäse, würde mit dem Gütesiegel "Deutscher Stolz" versehen. Tja, vermutlich würde man in dem Fall die AfD-Wähler schon am Inhalt ihrer Einkaufswagen erkennen 😂. 

In England hast du fast keine Chance, dieses Siegel zu umgehen. Und das sehe ich unter anderem sehr wohl kritisch, wenn ich darf. Die Vergangenheit ist nun mal geschehen und lässt sich nicht mehr verändern. Aber ob wir daraus lernen oder nicht, wie wir dazu stehen und damit umgehen, ob wir diesbezüglich überhaupt ausreichende Informationen erhalten, das sollte uns doch zumindest möglich gemacht werden. 

Kommentare

  1. Liebe Maren,

    man merkt, dass dieses topic dir sehr auf der Seele brennt.

    Wenig kann ich dazu schreiben, da ich mich mit dem Thema nicht tief genug beschäftigt habe.

    Das Gemälde berührt mich auch sehr. Wenn man sich vorstellt, wieviel individuelles Leid hinter den Familiengeschichten steckt.

    Stolz auf seine Herkunft zu sein, das finde ich immer sehr unangebracht. Man kann ja nun mal überhaupt nichts dafür. Damit hausieren zu gehen, finde ich unmöglich bis zur Halskrause.
    Die "lieben" Vorverurteilungen oder Vorurteile aufgrund seiner Herkunft, die "mag" ich auch sehr.

    Liebe Grüße,
    Claudia

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  2. Guten Morgen Maren, tatsächlich macht mich das Thema tief traurig.Nein ich bin auch nie stolz Deutsche zu sein. Ich kenne das Gefühl, das Du hast wenn Du gefragt wirst woher Du kommst.
    Das Thema hat mich in meiner Kindheit schon fast panisch traurig gemacht, es gab eine TV Serie, keine Ahnung wie die hieß, die meine Oma schaute. Ich konnte nicht begreifen, dass so etwas wie Sklaverei möglich ist.
    Sorry komme nochmal wieder 😅

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  3. Wie konnte man das alles bezahlen und unterhalten habe ich mich immer angesichts der Wahnsinnsschlösser & -landsitze gefragt, der Irren Repräsentationsbauten. Doch nur durch Ausbeutung, hemmungslos. Wenn sie nicht so einen herzerfrischenden Humor hätten, hätte ich die Inselbewohner kaum ertragen können mit ihrer stolz geschwellten Brust. Dass sie jetzt auf keinen grünen Zweig mehr kommen, liegt ja daran, dass man mit demokratischeren, gleichberechtigteren Gepflogenheiten solche Prachtentfaltung nicht finanzieren kann.
    Was mich schon vor 55 Jahren in meinem Vierteljahr in Birmingham beeindruckt hat: die menschliche Vielfalt. Die ist ja hier bei uns in den Metropolen viel später angekommen ( und heute könnte es eine gebürtige Kurdin schaffen, Kölner Oberbürgermeisterin zu werden ).
    Ja, und was die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit betrifft: das habe ich gerade in München betrieben. Ist erschütternd und damit auch befreiend. Ich steh jetzt zu dem, was ich AUCH bin. Könnte also eine Empfehlung an andere sein…
    Grüße aus der Kölner Matrazenlandschaft!
    Astrid

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  4. So, immer dieser Urlaubsstress!😂 Jetzt fällt mir nix mehr ein. Klar ich habe mich jetzt nicht so damit beschäftigt um mit Dir qualifiziert darüber zu diskutieren. Ich hab die Welt so gern bunt und Nationalstolz ist mir fremd.Das brauche ich wirklich auch nicht auf Produkten lesen, da bin ich ganz bei Dir. Ob man Sklavenhändlern ein Denkmal setzen sollte, sicher nicht.Hier wurde eine Schule umbenannt, weil sich rausstellte dass der Namensgeber ein Na*i war.
    Ich sende Dir liebe Grüße und Sonne, Tina

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  5. Ein großartiger Post, der das Thema gut beleuchtet und zusammenfasst. Traurig ist auch der Umstand, das ich erst im Herbst 2022 anfing mich damit zu beschäftigten. Als die Queen starb änderte sich plötzlich der Inhalt meiner Timeline auf diversen Plattformen. Ich bin mit einigen Schwarzen Menschen durch unsere Blogs befreundet. Sie waren durchgehend entsetzt darüber das in sämtlichen Nachrufen der Aspekt fehlte, das sie und die Krone tief im jahrhundertealten Sklavenhandel verstrickt waren. Wie du schreibst, auf eine Entschuldigung für das Unrecht wartete man sowieso vergebens. Erst da, ab September 2022, las ich viel darüber nach was der Ursprung dessen ist.

    Also ja, ich bin hier an der richtigen Adresse <3

    Schönen Sonntag für dich und liebe Grüße

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  6. Stolz kann man auf etwas sein, dass man geleistet oder sich erarbeitet hat. Die Herkunft gehört nicht dazu, für die kann man allenfalls dankbar sein.
    Aufarbeiten finde ich wichtig, vor allem vor der eigenen Haustüre. Andererseits tue ich mich schwer damit, wenn diese Schuld quasi nicht enden soll (z.B. Polens Reparationszahlungen von 1,3 Billionen Euro). Schau dir eine bunte Gruppe von Kindern an - die sind doch alle erst mal völlig unbeteiligt aber werden damit weiterhin in Täter und Opfer kategorisiert. Viel wichtiger ist es, wie man weiter macht, was man nachfolgenden Generationen beibringt und ob man was gelernt hat aus der Geschichte. Die Aktion, diese Statue zu versenken, fand ich grandios. Ein starkes Zeichen, das aber keinem weh tut sondern sichtbar macht, was eben bis heute noch falsch läuft.
    Find ich übrigens sehr gut, dass du hier darüber schreibst und diese Diskussionsrunden aufmachst. Ist ein sehr vielschichtiges und buntes Thema und alles andere als schwarz/weiß.
    Liebe Grüße!

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